Adolf Zehlicke (1834 – 1904)*

Die deutschen Kolonien in Galizien

Abschrift aus:  

Im neuen Reich – Wochenschrift für das Leben des deutschen Volkes

 in Staat, Wissenschaft und Kunst

Jahrgang 1876, Band 1, Seite 724 – 731

 

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Es sind jetzt nahezu hundert Jahre vergangen, daß Kaiser Josef II. den Gedanken  faßte, die von Polen erworbenen Länder durch deutsche Colonisten der Cultur des Westens zu nähern. Die fruchtbare sarmatische Ebene war unter der polnischen Wirthschaft vollständig verkommen. Immer tiefer und tiefer war das Volk gesunken, so daß die Theilung der polnischen Republik als ein nothwendiger Naturproceß erscheint. Kaiser Josef II. erkannte daher mit richtigem Scharfblick, daß nur durch deutschen Fleiß und deutsche Arbeit diese weiten Länder der Cultur wieder gewonnen werden könnten. Vorurtheilsfrei wie er war, räumte er den Protestanten bei seinen Colonisirungsplänen den Vorzug ein. Während seine Mutter Maria Theresia sich ganz und gar von den Jesuiten beherrschen und sich selbst zu Protestantenverfolgungen in Ungarn hinreißen ließ, hatte Josef das Princip der Toleranz für alle seine Staaten aufgestellt und rief selbst Protestanten aus Württemberg, Rheinhessen und der Pfalz herbei, um die neu erworbenen Länder urbar zu machen, deutsche Sitte und Cultur dort einzubürgern und die Slaven durch dieselben zur Arbeitsamkeit und zur Ordnungsliebe hinzuführen.

Das Beispiel, welches in dieser Beziehung Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. von Preußen gegeben hatten, wollte Josef in großartiger Weise nachahmen. Ueber die weiten Länder von der Weichsel bis zur Türkei sollte sich ein Netz deutscher Colonien ziehen, um so allmählich diese Länder zu germanisiren und zu cultiviren.

Der Plan war großartig ausgedacht und mit dem Feuereifer, der Josef II. so rühmlich auszeichnete, ins Werk gesetzt; aber er kam leider niemals vollständig zur Ausführung. Josef starb zu früh, ohne ihn auch nur zur Hälfte verwirklicht zu haben, und seine Nachfolger vollendeten das angefangene Werk nicht, sondern wandten sich von der Politik dieses groß denkenden Regenten ab und wieder den alten Wegen und dem Schlendrian der italienisch-spanischen Tradition der Habsburger zu, allem deutschen Geist sich feindselig gegenüberstellend und ihn von den Grenzen ihres Reiches verbannend.

Dennoch beweisen noch heute jene von Josef ins Leben gerufenen Colonien, welche über Galizien und die Bukowina zerstreut sind, wie Recht jener Monarch hatte und wie sein Plan zum Heil jener Länder  ersonnen war. Jene Colonien ragen wie Oasen aus der Wüste hervor und stechen vortheilhaft durch ihre Bodencultur von ihren slavischen und rumänischen Nachbarn ab. Ein Jahrhundert hat es nicht vermocht, den Vorsprung, den der Deutsche vor diesen Völkerrassen voraus hat, zu verwischen und die Tugenden, welche die ersten Colonisten vor ihren Nachbarn auszeichneten, haften auch noch heute der vierten Generation an.

Es war sehr weise gehandelt, daß Kaiser Josef die die deutschen Colonisten nicht einzeln ausbildete, sondern immer nur in vollständigen Dorfschaften, so daß sie ein geschlossenes Gemeindewesen bilden konnten. So hielten sie fest zusammen, bewahrten ihren Glauben, ihre Nationalität, ihre heimischen Sitten und vermischten sich nicht mit den Eingeborenen.

Die Colonien wurden alle nach einem gleichmäßigen Plane angelegt. Ein Stück Land in der Größe von zwanzig bis vierzig Joch wurde den Colonisten als Ackerland angewiesen, Holz und Material, sowie Vorschuß zum Bau von Haus, Scheune und Stallgebäuden. Von jedem Frohndienst befreit, konnten sie sich besser und leichter entwickeln als ihre polnischen und ruthenischen Nachbarn. Auch für die Anschaffung des nothwendigen Getreides, der Ackergeräthschaften und des Viehes wurde von Seiten der Regierung Sorge getragen.  So entstand eine Anzahl deutscher protestantischer Dörfer, welche von Schlesien bis an die rumänische Grenze reichen und noch gegenwärtig in blühendem Zustand sind. Alle diese von Josef II. gegründeten Colonien sind ebenso wie die viel älteren in Ungarn, Siebenbürgen und dem Banat von dem zähen, conservativen Charakter des deutschen Volkes und seiner großen Colonisationsfähigkeit ein glänzendes Zeugniß ab.

Wer die weiten Ebenen Galiziens bereist, wird sofort den großen Unterschied zwischen den Eingeborenen und den deutschen Colonisten gewahr. Wie vortheilhaft heben sich die deutschen Dörfer mit ihren freundlichen, weiß getünchten Häusern, die zum Theil aus Stein ausgeführt sind, mit ihren rothen Ziegeldächern, gegenüber den polnischen mit ihren niedrigen, schmutzigen Holzbaracken hervor. Helle Fensterscheiben mit Rosenstöcken und Levkoyen auf dem Fensterbrett und saubere Vorhänge erinnern an die deutsche Heimath. Die Häuser sind alle gleichmäßig angelegt, sie enthalten eine große Familienstube mit einem tüchtigen Kachelofen, wie man ihn in Süddeutschland meistens in den Bauernhäusern findet; eine bessere Stube, in der gute Möbel sich befinden, liegt derselben gegenüber. Oft befinden sich noch zwei bis drei Zimmer in den Häusern der wohlhabenden Colonisten, außerdem noch zwei bis drei Kammern, welche zu Schlafstuben dienen, dazu noch Küche, Speise- und Vorrathskammern, Keller und Bodenraum.   Die Ställe für Pferde, Kühe und Schweine sind in einem Anbau, zur Aufbewahrung von Getraide und Heu ist meistens eine besondere Scheune vorhanden, in der sich eine Diele befindet, auf der das Korn gebrochen wird. Jedes Gehöft ist mit einem Hof, auf dem der Dünger aufbewahrt wird, und mit einem Blumen-, Nutz- und Obstgarten versehen.

Welch einen erfreulichen Eindruck macht ein solches deutsches Gemeinwesen, rings von slavischen Elementen umgeben, oft zehn bis zwanzig Meilen vom nächsten deutschen Dorf entfernt und daher in seinem Verkehr ganz  und gar auf sich allein angewiesen! Und doch hat es seit seinem Bestehen nichts von seiner Eigenthümlichkeit eingebüßt und erinnert in Sitten, Gebräuchen und Dialect noch heute an die Heimath an Neckar und Rhein. Der Fleiß und die Zuverlässigkeit  des deutschen Colonisten sticht sehr vortheilhaft von der slavischen Faulheit und Unordentlichkeit ab. Das ganze Hauswesen macht den Eindruck der Gediegenheit und Wohlhäbigkeit. Wie wohlthuend wirkt schon auf uns die hohe Gestalt des kräftigen, wohlgenährten deutschen Bauern mit seiner dunkeln Tuchjacke von mittelmäßiger Feinheit, den dunkeln Beinkleidern von hechtgrauer Farbe, der Weste mit runden Bleiknöpfen, seinen hohen Röhrenstiefeln, seinem spitzen schwarzen Filzhute, den er im Winter mit einer Pelzmütze vertauscht, unter der die treuherzigen blauen Augen hervorschauen. Auch die Frauen kleiden sich einfach und geschmackvoll. Sie tragen meistens lange Perkalkleider von dunkler, meist grüner Farbe mit einer Schürze aus farbiger Leinwand, ihre Kopfbedeckung besteht aus einem farbigen Baumwoll- oder Zwirntuche, die Fußbekleidung aus weißen Strümpfen und schwarzen Lederschuhen. Alles das bildet einen sehr wohlthuenden Contrast gegen polnische Unsauberkeit und Nachlässigkeit. Noch größer aber ist der Gegensatz der innern Wohnung zu der ihrer slavischen Nachbarn. Ordnung und Sauberkeit herrscht im ganzen Hause, und ein gewisser Comfort macht einen sehr angenehmen Eindruck. Wohlgedielte Zimmer, Sopha, Tische, Stühle, schöne reinliche Betten mit weißen leinenen Ueberzügen, Kommoden aus Eichen und Nußbaumholz mit einem Glasaufsatze, in welchem Teller, Gläser und Löffel sich befinden, Uhr und Bilder an der Wand stechen vortheilhaft von der Aermlichkeit der polnischen Hütten ab.

Und wie im Hause alles wohlgeordnet und reinlich ist, so auch im Stalle. Dort bemerkt man ganz besonders den großen Unterschied und die Bedeutung der deutschen Colonisten. Während der polnische und ruthenische Bauer von der Vieh- und Pferdezucht keine Ahnung hat, sich einer herabgekommenen kleinen und verkümmerten Rasse bedient, setzt der deutsche Colonist seinen Stolz auf kräftige, hochgewachsene und starkknochige Pferde und auf stattliches deutsches Rindvieh. Er mästet auch nach ächt deutscher Sitte Schweine, während der Pole davon nichts versteht und stets nur mageres Vieh von geringer Rasse schlachtet und verkauft, überhaupt nichts von rationeller Pflege des Viehes weiß. Alles Ackergeräth ist in gutem Stande, Pflugschaar und Eggen sind aus Eisen, was bei Polen und Ruthenen eine große Seltenheit ist, und die Wagen sind gleichfalls gut und solid gebaut.

Bei der Bewirthschaftung der Felder zeigt sich nicht blos eine große Sorgsamkeit, sondern auch die Anwendung rationeller Grundsätze. Zwar ist es nicht von den deutschen Colonisten zu verlangen, daß sie sich die modernen Theorien der Landwirthschaft angeeignet haben. Im allgemeinen folgen sie noch immer der alten Dreifelderwirthschaft; aber sie suchen durch eine gute Düngung und durch einen entsprechenden Fruchtwechsel ihren Acker zu bessern und stets anzuregen. Daher kommt es denn auch, daß sie die besten Ernten in Galizien erzielen, daß ihr Getreide durch besonders schöne und große Körner sich auszeichnet und sie selbst in den schlechtesten Zeiten noch volle Scheunen und Böden haben und niemals die Hülfe der Regierung in Anspruch nehmen. Ihr Getreide wird wegen diesen guten Eigenschaften ganz besonders von den Händlern gesucht und geschätzt. Sie bauen auf ihrem Acker Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Haidekorn, Mais, Kartoffeln und Klee und zwar weit über ihr Bedürfnis hinaus, so daß sie einen nicht unerheblichen Absatz von ihrer  Ernte haben und in Folge dessen bei ihrem nüchternen und sparsamen Leben meistens noch einen Sparpfennig erübrigen und in der Regel über ein kleines Vermögen zu verfügen haben.

Die Bearbeitung des Ackers betreiben sie mit ihren Angehörigen selber; indessen reichen ihre Kräfte meistens nicht aus und so halten sie denn in der Regel noch einige Mägde und zwei bis drei Knechte, die mit im Hause wohnen und vollständig zur Familie gehören. Ausnahmsweise nehmen sie namentlich in der Erntezeit auch Arbeiter in  Dienst; doch sind das nur selten Deutsche, weil es nur eine kleine Anzahl deutscher Arbeiter hie und da zerstreut in den Colonien giebt. Es sind das meistens Nachkommen von Colonisten, denen ihre Eltern kein selbständiges Gut hinterlassen konnten, da in der Colonie in der Regel der älteste Sohn den Hof erbt. Wo es solche Arbeiter giebt, da haben sie doch meistens ein kleines Holzhäuschen und ein Stück Acker, so daß sie gewissermaßen Bauern sind, wenn auch in beschränktem Maße. Zur Miethe wohnen sie äußerst selten und dann meistens in der Weise, daß sie dieselbe durch Arbeit abdienen. Ihr Lohn ist allerdings sehr gering, da er sich nur auf 35 – 50 Kreuzer Oesterreichischer Währung beläuft; besser stehen sie sich allerdings, wenn sie in Stückarbeit angenommen sind und das geschieht namentlich beim Mähen, Dreschen, Häckselschneiden und bei Holzfuhren aus dem Walde.

Das Leben der Colonisten fließt im Ganzen einfach und unter Arbeit und Anstrengung dahin; nur bei den Familienfesten, Hochzeiten, Kindtaufen und den großen Festtagen zeigt sich auch hier wieder die alte deutsche Sitte für die reich besetzte Tafel zu sorgen, und sich der Freude an Speise und Trank mit Gesang und Tanz hinzugeben. Dieselbe Ausdauer, die der deutsche Colonist bei der Arbeit bewahrt, entwickelt er auch an der Tafel. Es ist wirklich erstaunlich, was er an Speise und Trank bei solcher Gelegenheit zu sich zu nehmen imstande ist. Die alten Sitten und Gebräuche der Urheimat haben sich bei solchen Festlichkeiten erhalten, wenn auch hin und wieder sich schon einzelne polnische Gewohnheiten eingeschlichen haben.

Uebrigens lebt der deutsche Colonist mit seinen polnischen und ruthenischen  Nachbarn, trotzdem sie verschiedener Confession und Nationalität sind, meistens in gutem Verhältniß. Jeder Colonist ist außer der deutschen Sprache, welche er in seinem Haus von Jugend auf zu sprechen gewohnt ist, auch der polnischen vollständig mächtig; dennoch ist sein gewöhnlicher Verkehr und Umgang auf seine Stammesgenossen beschränkt.

Ihre volle Bedeutung erhalten diese deutschen Colonisten aber durch ihr kirchliches und Schulleben. Sie sind ihrer Confession nach alle Protestanten und hängen mit unerschütterlicher Treue an dem Glauben ihrer Väter. Ein Uebertritt zum Katholizismus oder auch nur eine Mischheirat ist bei ihnen eine große Seltenheit. Ein reges kirchliches Leben herrscht in diesen kleinen Gemeinden. Die Zahl der Orte, wo allsonntäglich mit dem verklingenden Glockengeläute die ganze Gemeinde zum Gottesdienste versammelt ist, ist nicht gering und man begegnet dort ehrenfesten Naturen, deren ganzes Wesen von frommem Sinn durchleuchtet und belebt erscheint, nicht selten. Unter diesen Umständen ist es auch begreiflich, daß die Colonisten die größten Opfer für ihre Kirche bringen. So hat eine kleine Gemeinde, nur fünfzehn Bauergüter zählend, in dem Kirchspiele Josephow aus ihren eigenen Mitteln sich eine schöne Kirche im gothischen Stile erbaut, zu der jeder Colonist dreihundert Gulden beigesteuert hat, zu der sie außerdem alle Fuhren und Handreichungen freiwillig übernommen haben. Eine gleiche Opferfreudigkeit dürfte schwerlich in Deutschland sich finden.

Großes Verdienst um diese Colonistengemeinden hat sich auch der Gustav Adolfverein erworben. Er hat seine milde Hand aufgethan und dort Hülfe gebracht, wo die eigene Kraft nicht ausreichte. So ist noch auf der letzten Generalversammlung dieses Vereins in Potsdam die größte Gabe einer solchen deutschen Colonistengemeinde zugefallen. Man kann sich dessen nur freuen. Nirgends wird eine solche Gabe freudiger und mit größerer Dankbarkeit aufgenommen, als in diesen zerstreuten Gemeinden. Die protestantische Kirche ist der Mittelpunkt ihrer Nationalität, ihres kirchlichen und sittlichen Lebens. Würde ihnen diese genommen oder könnten sie dieselbe nicht mehr aufrecht erhalten, dann würde auch ihre Nationalität, ihre Sprache, ihre Sitte, ihr Culturstand zusammen-brechen und sie würden sich in das Slaventum verlieren. Von polnischer Seite wird alles gethan, um ihnen das Leben schwer zu machen, ihnen ihre Confession, ihre Sprache und Nationalität zu rauben. Der österreichische Staat hat diese treuen Colonisten der polnischen Willkür fast ganz Preis gegeben; nur der Zusammenhang mit der deutschen Mutterkirche hält dies treue Häuflein aufrecht.

Nicht wenig trägt zu dieser zähen und tapfern Haltung der geistliche Stand bei. Einzelne  aus ihm haben ihre Bildung entweder ganz oder doch theilweise der deutschen Hochschule entnommen, der Mehrzahl nach aber sind sie aus der protestantischen Facultät in Wien hervorgegangen. Der Geburt nach stammt nur der kleinere Theil aus Galizien, die meisten sind in den übrigen Kronländern oder in Ungarn und Siebenbürgen geboren. Ihrer kirchlichen Richtung nach gehören sie fast alle einer mittleren, gemäßigten an, die gleich weit von schroffer Orthodoxie wie von dem entgegengesetzten Extrem  entfernt ist. So viel es nur irgend möglich ist, halten sie die Verbindung mit der deutschen Mutterkirche aufrecht. Freilich ist ihre große ländliche Abgeschiedenheit, sowie die Kargheit ihrer Stellung oft ein fast unüberwindliches Hinderniß, um auch persönliche Bereicherung zu ermöglichen. Dennoch nehmen sie das lebhafteste Interesse an den Vorgängen in Deutschland und verfolgen dieselben mit gespannter Aufmerksamkeit. Die große Entfernung der einzelnen Gemeinden von einander macht auch häufige Berührungen der Geistlichen untereinander fast unmöglich. Es giebt dort Amtsbrüder, welche sich im Leben niemals begegnen. Dadurch fallen Anregungen, wie sie in Ländern bestehen,  wo die Gemeinden nahe beieinander liegen, fast ganz fort.  Die Geistlichkeit ist auf sich selbst und ihre Gemeinden angewiesen und es muß der Einzelne daher schon kräftiger angeregt sein und ein entschiedenes geistiges Interesse sich bewahrt haben, wenn er in dieser Vereinsamung und bei seiner kärglichen Dotirung nicht allmählich zurückgehen und schließlich doch noch verkümmern soll.

Nicht wenig zu dem guten Einvernehmen der Gemeinden mit ihren Geistlichen und dem kirchlichen Sinne trägt auch die ausgebildete presbyteriale Verfassung bei. Die Colonistengemeinden sind vollkommen autonom. Alle haben das unbehinderte und vollständig freie Recht der Wahl ihrer geistlichen und ihrer selbstgewählten Vertreter, welche ihre Angelegenheiten verwalten und ordnen. Jedes selbständige, großjährige Mitglied der Gemeinde übt das Wahlrecht aus und alljährlich muß der gewählte Ausschuß vor der versammelten Gemeinde Rechenschaft über Einnahmen und Ausgaben, über seine gesamte Thätigkeit in Kirche und Schule ablegen und jedes Gemeindeglied hat  das Recht der Interpellation, der Kritik und der Anklage.  Die Gemeinden bilden wieder unter sich drei größere Gemeinschaften, welche die Seniorate ausmachen: Aus den Vertretern der einzelnen Gemeinden wird auch hier wieder ein gemeinsamer Ausschuß erwählt, welcher die gemeinsamen Interessen beräth, während ein Geistlicher dieses Seniorats von dem Ausschuß auf sechs Jahre erkoren die Verwaltung dieses Kreises in Uebereinstimmung mit dem weltlichen Vorstande zu leiten hat. Sämmtliche Gemeinden Galiziens und der Bukowina bilden schließlich eine Diöcese, welche aus den Vertretern der Senioratsconvente gebildet wird und an deren Spitze ein Geistlicher als Superintendent  und ein weltlicher Vorstand steht. So ist in allen diesen Gemeinschaften der Antheil des weltlichen Elements gewahrt.

Gerade in dieser Harmonie des weltlichen mit dem geistlichen Stande besteht die Stärke der galizischen evangelischen Kirche. Daraus hat sie bisher noch immer die Kraft und Fähigkeit genommen allen Stürmen zu widerstehen und sich zu einer unerschütterlichen Phalanx zu verbinden.  Neben der Kirche nimmt die Schule eine hohe Bedeutung für die deutschen Colonisten ein.  Während ringsherum das Land von den katholischen Geistlichen in tiefster Unwissenheit erhalten wird und die Schulbildung in dem Maße unter der polnischen und ruthenischen Landbevölkerung selten ist, daß bei der Rekrutenaushebung nur 6 Procent kümmerlich lesen und schreiben können, an 94 Procent aber jeder Schulbildung ermangeln, zeichnen sich gerade die deutschen Colonisten durch eine verhältnismäßig gute Schulbildung aus.  Fast jeder Deutsche kann lesen und schreiben. So dürftig auch ihre Mittel sind, so unterhält doch selbst die kleinste Colonistengemeinde einen Lehrer. Seine Einkünfte sind allerdings äußerst gering, in der Regel 40 – 60 Gulden Oesterreichischer Währung jährlich, höchstens 100 Gulden an baaren Einkünften, ein kleines Häuschen, ein sehr beschränkter Hausgarten und in der Regel noch vier Joch Acker. Darauf muß der Lehrer seine Existenz gründen; denn wenn er auch hin und wieder noch etwas durch Privatunterricht einnimmt, so ist dies doch so gering, daß das kaum in Anschlag zu bringen ist. So ist allerdings die Stellung eines Lehrers gerade keine glänzende in äußerer Beziehung; aber um so mehr kann er auf das freudige Entgegenkommen der Gemeindemitglieder, auf Achtung und auf Förderung seines Berufes von Seiten der Colonisten rechnen, die ihrem Lehrer stets mit der gebührenden Anerkennung und Würdigung seines schweren Berufes entgegenkommen.

So ist in diesen von der Außenwelt abgeschiedenen deutschen Gemeinschaften ein treues, frommes, sittliches Leben, voll Tugend und Ehrenhaftigkeit. Der deutsche Colonist ist nüchtern, arbeitsam, sparsam, häuslich; weder der bei den Polen so beliebte Branntwein vermag etwas über ihn, noch auch die Juden können in den Colonien aufkommen und fühlen sich weit wohler in dem polnischen Schmutze. Sonntags geht der deutsche Colonist nach dem Besuch der Kirche mit den Seinigen auf den Acker und freut sich an dem Gedeihen seiner Saaten; oder er besucht seine Verwandten. So führt er inmitten seiner Familie ein einfaches Leben, welches die Zerstreuungen der großen Welt entbehrt.  Aber dennoch nimmt er weit mehr Antheil an den Geschichten der Völker und der Menschheit als der Pole, der rauschenden Vergnügungen nacheilt, denn in fast keinem Hause der Deutschen fehlen deutsche Zeitungen, aus denen die Bewohner dem Verlauf der Dinge in der fernen Welt mit Spannung folgen.

So hat denn auch dort bei den treuen deutschen Seelen am San und an der Weichsel der Triumph der deutschen Waffen in Frankreich ein lebhaftes und freudiges Echo hervorgerufen und wenn auch seit einem Jahrhundert fern vom heimathlichen Boden, haben doch diese Colonisten niemals ihr Vaterland, ihre Nationalität und ihren Glauben vergessen und fühlen sich noch immer eins mit dem großen, jetzt so mächtigen und ruhmvollen Vaterland.

 

* Text gemeinfrei gem. § 64 UrhG; Rechtschreibung aus der Vorlage übernommen; Irrtum der Abschrift vorbehalten