Wolhynien - ein Landstrich unter den Frontlinien des ersten Weltkrieges
Die Erinnerung von Wolhyniendeutschen an ihre Heimatregion in der Zeit des ersten Weltkrieges ist geprägt von den bitteren Erfahrungen der Enteignung und Deportation, und später, nach der Rückkehr, von den Anstrengungen um den Rückerhalt ihrer Grundstücke, den Schwierigkeiten des Wiederaufbaus und erneuten Verfolgungen; selten schaut man dagegen auf die Zeit der Kampfhandlungen in der Region.
Zeitgenössische Berichte mit teilweise sehr persönlichen Beobachtungen lassen nur erahnen, wie schwerwiegend die kriegerischen Ereignisse das Land mit seiner einheimischen Kultur und dem Lebens(t)raum seiner Menschen, und auch die Schönheit und Weite seiner landschaftlichen Eigenart und Natur verwundet und zerstört haben.
Geostrategisch wird die Region wie folgt beschrieben:
"Im flachhügeligen Wolhynien kommt die größte kriegsgeographische Bedeutung seinen Flüssen zu. Sie sind sämtlich wasserreich und flößbar, ihre Täler wegen Sümpfen und Altwässern schwer durchgängig. Besonders in Westwolhynien (bis zum Horyn), das aus Kreidemergeln mit aufgelagertem Tertiär aufgebaut ist, bilden die sumpfigen Flußtäler ein großes Hindernis für Kriegsoperationen. In Ostwolhynien mit seiner Granit-Gneisunterlage und alttertiären Decke ist diese Eigenschaft der Flußtäler weniger ausgeprägt und die Flachtäler besonders Südostwolhyniens verlieren viel an ihrer Breite, aber West- wie Ostwolhynien zeichnen sich beinahe gleichmäßig durch häufige, umfangreiche Einsenkungen aus, inmitten des Flachhügellandes gelegen und stark versumpft (z. B. nördlich von Kowel, zwischen Stochod und Styr, Styr und Horynj nördlich von der Bahnlinie, bei Dubno, Ostrog, Nowograd-Wolynsk etc.). Sie erinnern im kleinen an das benachbarte Polissje.
Rußland hat die kriegsgeographische Bedeutung der Hügel, Flußtäler und Sümpfe Wolhyniens gewürdigt und Luzk, Riwne (Rowno) und Dubno in starke Festungen verwandelt. Dieses wolhynische Festungsdreieck stützt sich auf das Hügelland von Dubno und die sumpfigen Täler des Styr, Ikwa, Horynj. Die Verbindung mit dem befestigten polnischen Aufmarschraum stellt Kowel her, ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt an der Turja, welcher ganz sicher nicht ohne Befestigungen gelassen worden ist.
Eine wichtige zweigeleisige Bahnlinie (Kijew) Kosjatyn—Riwne—Kowel—Brest mit Abzweigungen nach Luzk, Wolodymyr, Cholm, bei Riwne von der Bahnlinie Wilna—Luninez—Sarny—Radziwilow gekreuzt, durchschneidet Wolhynien in seiner ganzen Längenausdehnung. Eine gut erhaltene, sehr leistungsfähige Chaussee führt von Kijew durch Nowgorod Wolynskyj, Riwne, Luzk nach Kowel und Brest und hat Verzweigungen nach Dubno und Kremenez."
(aus: Stephan Rudnyckyj (1877 – 1937) Der östliche Kriegsschauplatz, Jena 1915, S. 30-31)
Eine Neuseeländische Zeitung veröffentlichte im November 1915 einen Bericht mit weitergehenden Details zu landschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in Wolhynien unter dem Titel "Russia's fever territory". (>>> Text zum Download - pdf 41 KB)
Original: Staatsarchiv Neuseeland (Seitenaufruf 16.6.2017)
https://paperspast.natlib.govt.nz/newspapers/OAM19151105.2.17
Den Ausbau der russischen Wehranlagen im so genannten Festungsdreieck Luzk – Dubno – Rowno beschreibt ein Aufsatz in der Meraner Zeitung vom 15. September 1915.
(>>> Text zum Download - pdf 53 KB)
vgl. hierzu auch eine Beschreibung aus dem 19. Jahrhundert:
(>>> Text zum Download - pdf 40 KB)
Wie nah die vor- und zurückwogenden Kampfhandlungen der gegnerischen Heerestruppen an deutsche Kolonien und Dörfer heranreichten und diese oftmals auch überrollten, lässt sich beispielhaft einer nüchternen Auflistung von Gefechtsdaten der Ostfront entnehmen, die aus amtlichen Akten zusammengetragen worden ist. (>>> Text zum Download)
Einzelne Soldaten nahmen das Land auch mit anderen Augen wahr. So berichtet zum Beispiel ein Truppenmitglied des deutschen Heeres vom Einsatz am Standort Twerdyn:
"(…) Das Städtchen [Kisielin] muß früher mit seinen zahlreichen Ziegelhäusern, seiner griechisch-orthodoxen Kirche, dem römisch-katholischen Kloster, dem Park des Gutshofs stattlich dagelegen haben, als Mittelpunkt der ziemlich dicht, auch von zahlreichen deutschen Kolonisten besiedelten Landschaft. Wohlhabende Leute wohnten hier: manch schön geformtes Kupfer-und Messinggerät haben russische Granaten oder der Spaten des Schatzgräbers bloßgelegt, und der verwilderte Friedhof an der Straße nach Twerdyn mit seinen hochragenden Eichenkreuzen weist manch kostspieliges, backsteingewölbtes Grabmal auf. In zwei Ruinen, der "Roten Wand" und dem "Roten Haus", hatte wohl die beginnende Industrie ihren Sitz. Des Handels haben wohl langbärtige Juden in schmierigen Kaftanen sich angenommen, die nun auf ihrem wildverwachsenen Kirchhof ruhen, unter bunt bemalten Stein- und Holzsäulen, deren hebräische Runenschrift und rätselhafte Tiersymbolik wir vergebens zu deuten suchen.
Jetzt ist all die Herrlichkeit und das geschäftige Treiben versunken. Schutterfüllte Baugruben, angekohlte Eichenpfosten, umgekrempelte Stroh- und Schindeldächer, zerschlagener Hausrat, moderner Kleiderkram, verrostetes Feld- und Werkstattgerät: das ist Kisielin, überwuchert von des Sommers farbenfroher Pflanzenwelt , die der schwarzen wolhynischen Erde üppig entquillt.
Aus dem blühenden Ruin ragt unversehrt die Kirche, von deren Dachluke einst ein russisches Maschinengewehr zweimal den deutschen Sturm auf Kisielin zum Scheitern gebracht. Umhegt von mächtigen Linden steht sie mit ihren weißgetünchten Mauern und grünen Dächern zauberhaft im Mondlicht da. Nie schießt der rechtgläubige Russe hieher; sicher ruhen, nahe vereint, die Lebenden und die Toten in ihren Unterständen und Gräbern unter dem Schirm des Gotteshauses, in dessen Chor der Mutter Gottes schwarzes Bildnis thront.
Eine klotzige Ruine, ein unerschöpflicher Backsteinbruch ist die Klosterkirche. Gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts, als das einst sehr annexionslustige Königreich Polen seinen Machtbereich auch auf Wolhynien ausdehnte, kamen römisch-katholische Mönche, barfüßige Karmeliter, nach Kisielin, wohl von Krakau oder Warschau her. Rasch wuchs durch Schenkungen und Stiftungen der Grundbesitz des Klosters gewaltig an; eine große Zahl der umwohnenden Bauern waren seine Schuldner oder Hörige. Sehr zahlreich sind in den teils lateinisch, teils polnisch, teils russisch geschriebenen Akten die Mahnungen an säumige Zinszahler, die im Notfall auch vor das bischöfliche Gericht Luzk geladen wurden. Der Bischof von Luzk war es auch, der 1764 den Grundstein der prächtigen Klosterkirche legte. Sie wurde prunkvoll ausgemalt und mit ausdrucksvollen Holzschnitzbildern von Engeln und Heiligen verziert. Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts scheint das Kloster aufgehoben worden zu sein. Den fetten Grundbesitz eignete wohl der Staat sich an. Die Mönche - zehn bis zwanzig mögen's gewesen sein - griffen zum Wanderstab, und ein Pfarrer übernahm die Seelsorge für die in der Umgegend zerstreuten Glaubensgenossen. Die Predigt, die er auf Ostern 1916 gehalten, hat unser Feldkaplan noch vorgefunden. Nicht lange nach dieser Osterpredigt fuhr der Kriegssturm über die Klosterkirche hin. Durch die hohen Fenster und flachen Bogen krachten, klaffende Breschen reißend, die Granaten. Die Engel und Heiligen stürzten von ihren Postamenten und lagen obdachlos mit zerschundenen Gliedmaßen und klagenden Gebärden beim Klosterhof, bis sie nach rückwärts in sicheres Asyl verbracht wurden. Der Pfarrer fand noch Zeit, einen Teil seiner reichhaltigen Bücherei, darunter auch allerlei deutsch geschriebene Lehrbücher, in Wandschränke und Truhen auf dem Korridor der Sakristei zu verstauen, dann suchte er zwei Stunden rückwärts Zuflucht in Swojczow. (…)
Der Besitzer des Gutshofes wird große Augen machen, wenn er mal wiederkommt und einen Blick nach dem Grabe seiner Habe wirft. Das weißschimmernde Herrenhaus mit den hohen Gelassen, den weiten Fensterhöhlen und der breiten Zufahrtsrampe ausgebrannt bis auf die kahlen Backsteinwände, Gesinde- und Wirtschaftsgebäude niedergelegt bis auf die Kellergewölbe. Zier- und Obstgarten durchsetzt mit Granattrichtern, Laufgräben und Unterständen, übersät mit Gerät und Gerümpel aller Art, ein klägliches Bild verheerten Behagens, überschattet von rauschenden Linden und Eschen! An und unter der Ruine des Herrensitzes haben Marketenderei, Revierstube, Maschinengewehrtrupps sich eingenistet; auch hier wurden die Keller schußsicher ausgebaut, dem alten Besitzer vielleicht willkommen als vorläufige Unterkunft. (…)"
Abschrift aus: Hauptmann Leuze* (Hrsg.) "Bilder aus der Geschichte des Württ. Res. Inf. Reg. Nr. 122.
In Wolhynien", Stuttgart 1918, S. 24 – 28 (*vermutl. Oskar Leuze, Althistoriker, 1874 – 1934)
Die sichtbaren Folgen von Zerstörungen und Flucht gingen nicht spurlos an den Soldaten vorbei – dies zeigen weitere Berichte:
"Wolhynien ist arm an Steinen. Deshalb sind selbst seine größeren Bauten, die Kirchen, Schlösser und Gutshäuser, zumeist aus Holz. Höchstens daß hier und da schlecht gebrannte, bröckelnde Ziegelsteine verwandt wurden. Ganz im Gegensatz hierzu steht ihr Äußeres. Die wolhynischen Baumeister haben es verstanden, Potemkinsche Dörfer hervorzuzaubern, und da in einer Vollendung, daß der Ankömmling sich durch Befühlen überzeugen möchte, was denn nun eigentlich Wahrheit sei, das Fernbild oder das aus der Nähe.
In den endlos sich dehnenden, kaum gewellten Weiten ballt sich irgendwo eine dunkle Masse zusammen: Bäume und Gebüsch, Häuser und Scheunen. Dazwischen ragt in blendender Weiße eine Kirche auf. Ihre hellgrünen Zwiebeln, Kuppeln und Türmchen leuchten. Man könnte meinen, ein Rokokoschlößchen zu sehen, so zierlich wirken die kleinen Säulen des das Turmdach tragenden Luginslands. Bläuliche Schatten umrahmen das Tor der Kirche. Ein Bild ziert die Supraporte. So liegt die Kirche da, in sattes Grün gebettet. Und mit Bedauern sieht man beim Näherkommen, wie sich diese "Marmorgemme in smaragdener Schale" in der Nähe sich als ein grob gearbeiteter Bau aus schlecht gefügten und schlecht geweißten Planken enthüllt.
Oder: Die beiden Torpfeiler einer langgedehnten Umzäunung lassen eine wunderbare Reihe alter Bäume sehen, die, auseinanderweichend, ein weites Halbrund bilden, in dessen Mitte eine Rasenfläche ihr feuchtes Auge aufschlägt. Dahinter führen Marmorstufen in eine von Säulen getragene Halle, die Dunkel und Kühle atmet. Und durch die Halle geht's hinein in das weiße Schlößchen, das – wie der alte, verwachsene Park selbst, durch dessen dichtes Laub die Sonnenkringel flimmern und zittern – vom Sonnenscheine überstrahlt wird. Ein echter Herrensitz alter Geschlechter. Doch wenn wir näher kommen, verschwindet wieder die Herrlichkeit. Zu Holzpfeilern werden die Marmorsäulen, zu Verschlägen der der schattigen Halle Wände, zu leichten Mauern die Marmorquadern. – Immer die gleiche Enttäuschung.
historischeAnsichtskarte: "Ein von Russen zerstörtes Dorf" Swidniki / Kowel
Und überall die gleichen Spuren des Verfalls. Denn der Krieg hat sie alle berührt, auch wenn er nicht die Brandfackel hineinschleuderte. Von den Säulen fällt der Stuck. In den Wänden klaffen Spalte und Risse. Von den Mauern blättern große Stellen ab und zeigen, daß sie nur aus Lehm, Schilfrohrgeflecht und Holzleistchen zusammengepappt sind.
In diesen Grenzstrichen, die gestern den Russen gehörten und heute den Deutschen, die beim nächsten Vorstoß der Russen wieder verlorengehen, um darauf zurückgeholt zu werden – in diesen Grenzstrichen wissen die Bewohner niemals, ob sie den nächsten Tag noch in ihren eigenen Räumen begrüßen können. Was soll man da noch groß ausbessern! Die Zimmer gehörten ihnen ja doch schon nicht mehr. Einmal ist ein Stab darin und dann eine Kommandantur, mal ein Fernsprechamt und mal ein Offiziersquartier. Und jeder Besucher hinterläßt seine Spuren. Fernsprechleitungen haben sich mit der Rücksichtslosigkeit des Krieges durch Mauerwerk und durch Holz, durch Tapetentüren und durch Decken gebohrt. Bretterwände ziehen sich mitten durch ehemalige Salons und teilen Verschläge ab, hinter denen Betten stehen. Jeder, der auszieht, reißt wieder ab, was er mitnehmen kann an Karten, Apparaten, Lichtleitungen. Die Löcher und Risse bleiben unverputzt, die Tapeten, die sich von der Wand halb lösten, bleiben hängen. Der neu Einziehende hat Besseres, Eiligeres, Wichtigeres zu tun als auzubessern. Und an Möbeln wird zusammengetragen aus dem ganzen Hause, was nötig ist. Da steht ein zierliches Rokokotischchen mit eingelegter Platte und geschweiften, goldenen Füßen neben dem großen, plumpen, von Soldatenhänden aus rohen Brettern rasch zusammengefügten Tisch; geradlehnigen Stühle aus der geschmacklosen Zeit der achtziger Jahre, Hocker, Großvaterstühle, Klubsessel, Ecksofas, Möbel aus der Zeit der Sonnenkönige, die nicht Sofa sind, nicht Ruhebett und auch nicht Lehnstuhl und doch von alledem etwas haben – und in der Ecke, neben dem Schreibtischschrank aus Biedermeierzeit mit Klappe und zwei Dutzend Fächern eine Pritsche mit Strohsack und wollener Decke.
In ein solches Gutshaus trat ich einst. Ein Generalkommando hatte zuletzt darin gewohnt. Dann kam ein Rückzug. Einige Möbel wurden mitgenommen, andere blieben. Da stand mitten in einer Halle, die einst sehr schön gewesen sein mußte mit ihren Pfeilern, ihrer Wandverkleidung, ihrer gewölbten Decke, nichts als ein Flügel. Und oben, in einem hübschen kleinen Raum, der einst ein Boudoir gewesen sein mochte, so ein richtiger Schmollwinkel, hingen im Sammetrahmen Familienbilder und stand als einziges Möbel ein Damenschreibtisch, verloren und verlassen.
Ganz leere Gutshäuser und Schlösser habe ich in großer Zahl gesehen. Sie wirkten nicht anders als Bauten, deren Zeit um ist und die nur auf die Spitzhacke warten; aus denen deshalb mit den Bewohnern auch die Hausgeister ausgezogen sind. Hier aber waren sie geblieben; denn der Hausrat war noch da, an dem sie hingen. Sie saßen zwischen den Saiten des Flügels und ließen sie leise schwingen. Sie schauten aus den Familienbildern, aus all der Herren und Damen klugernsten oder heiteren Gesichtern. Sie stiegen aus den Fächern des Schreibtisches auf mit einem leisen Duft von Lavendeln und vertrockneten Rosen. Sie erzählten von dem Glück und der Liebe der Menschen, die ehemals hier wohnten, von ihrem Leid und ihrer Freude in diesen Räumen, die nun des Krieges Hand berührt hatte.
Wem gehörten jetzt Park und Haus? Wo war der Spieler, der einst vor dem Flügel saß? Wo die Eigentümerin des Schmollwinkels oben im Giebel?
Vertrieben – geflohen – erschlagen – wer weiß es?"
Abschrift: Walter Wolff* "Kirchen und Herrensitze. Ein Stimmungsbild aus Wolhynien"
in: "Die Bergstadt" Fünfter Jahrgang, Heft 5, September 1917, Seite 494 – 495
(*vermutlich Walter Wolff, 1886 – 1916, Luftschiff-Kommandant des Deutschen Heeres
u.a. im Einsatz in Wolhynien und zuletzt in Temeswar /Rumänien)
Die ausgedehnten Feld- und Hügellandschaften, die undurchdringlichen Wälder und Sümpfe Wolhyniens haben in der Erinnerung der Soldaten nachhaltige Eindrücke hinterlassen:
"Schwermut, grenzenlose, allumfassende Schwermut lastet auf Wolhynien und den Ländern am Bug.
Unendlich ist ihre Weite. Sie bedrückt den, der hier lebt, läßt keine Luft, keine Freude, keine Hoffnung aufkommen. Hoffnungslos! Das ist das Wort. Hoffnungslos ist die grenzenlose Weite, mag sie auch überquellen vom hellen Grün der Wiesen und dem dunkelen der nassen Niederungen, vom stumpfen Gelb des Korns und dem leuchtenden Gold der Lupinen. Grellfarbene Vierecke liegen dazwischen, denn hier, wo alles ins Ungewisse geht, wachsen auch die Blumen nicht vereinzelt, sondern stehen zusammen. Da brennt der Mohn, da flimmert die Kornblume, da leuchtet’s weiß auf weiten, weiten, weiten Strecken.
Hoffnungslos ist auch dann die grenzenlose Oede, wenn der Blick, durch nichts behindert, über Stoppelfelder geht, die kreuz und quer durchzogen sind von tief einschneidenden Wagenspuren; über braune Sümpfe, in denen Baumstümpfe stehen zwischen Wasserfäden und Tümpeln - - und wenn über alles das der Herbstwind pfeift und der Winter dann Feld und Weg und Gräben und Wasserlachen mit einem klingenden, schimmernden Netz aus Frost und Reif und Schnee und Eis überspannt, in das der Pferde Hufe klirrende, splitternde Löcher reißen. Dann ducken sich die wenigen Häuser an den Erdboden, schmiegen sich in Geländefalten, kriechen in sich zusammen, als wollten und müßten sie sich verstecken vor der grauen, schweren, drückenden Unendlichkeit …
Ob’s Sommer ist, ob Winter, immer geht der Blick in hoffnungslos ausgedehnte, unbeschränkte Weiten. Nur hier und da stehen Bäume und Büsche, einzeln und in kleinen Hainen, Gehöfte, Mühlen, deren lange Arme sich trübselig drehen in nicht enden könnendem, langsamen Spiel oder ausgestreckt stillstehen, als wollten sie Hilfe vom Himmel herabholen. Selten einmal ein Dorf, dann aber zieht es sich oft stundenlang an der Landstraße hin, als wagten die weit auseinandergezogenen Häuserreihen nicht, ganz aufzuhören, aus Furcht, die Einsamkeit könne wieder beginnen.
Und irgendwo in der Ferne steht ein Wald, den man nie erreicht, dräut bald in schwärzlichem Grün, lockt bald in zittrig verschwommenem Blau und leuchtet dann wieder in hunderttausend Farben, die vom hellstem Gelb über brennendes Rot zum sattesten Braun gehen…
Schwermut, grenzenlose, allumfassende Schwermut lastet auf Wolhynien und den Ländern am Bug…"
Abschrift: Walter Wolff (s.o.) "Wolhynien"
in: Der Türmer, Zweites Septemberheft 1917, XIX. Jahrgang, Heft 24, Seite 797)
Abbildung: Heinrich Vogeler (1874 - 1942) "Mühle bei Kowel" (ca. 1915)
Zwei andere Soldaten halten rückblickend fest:
"Wolhynien . Immer werde ich Sehnsucht haben nach dem stillen, weiten Land. Ich habe es liebgewonnen um seiner großen Einsamkeit willen.
Wie offenbaren sich in dieser tiefen, weltfremden Verlassenheit die Zauberlaute menschenfernen Naturlebens! Wohl dem, der sie vernehmen kann!
Einsamkeit, dunkelbeschwingte Einsamkeit erfüllt ringsum Himmel und Erde und zwingt uns mit allem Sinnen und Fühlen und Denken in seinen Bann.
Unübersehbar dehnen sich die Sümpfe, in deren Schilf seltsame Stimmen laut werden. Klatschend steigen Wasservögel mit nassem, schwerem Flügelschlag aus dem Dickicht, streichen in kurzem gestrecktem Flug darüber hin und tauchen wieder unter in das Meer der rauschenden Halme.
In der Dämmerung aber und in den warmen Vollmondnächten schwebt ein geisterndes Singen und Klagen und Weinen über die weiten Flächen – der Sumpf singt sein einförmiges, unsagbar trauriges Lied. (…)
Ich werde dich nie vergessen, du Land, dessen dunkle Erde so schwermütig und breit unter dem fremden hohen Himmel dahinwogt. Deine tiefverschlammten Wege, die über endlose, braune Steppen führen, haben uns qualvolle Tage und Stunden bereitet. Deine wenigen Strohhütten, die abseits der Wege und müde an den Hängen kleben, boten kein Obdach für den langen Zug der siegreichen Fremdlinge. Grell stehen deine weißen Holzkirchen inmitten deiner unzähligen, niedergebrannten Dörfer und verkohlten Trümmerhaufen, von denen ein schwelig-modriger Geruch in die warmen Sommerlüfte steigt. Aus deinen Wassern, die von Schilf und Sumpfgras umflüstert, in stygischer Trägheit dahinschleichen, trank der Durstende Siechtum und Tod.
O Wolhynien, du Land der duftschweren, erikablühenden Heiden, der mit tausendfarbig glühendem, schimmernden Licht gefüllten Mulden, du Land der grauen Steppen und nachtschattigen Ebenen – du in deiner tiefen Einsamkeit unvergeßlich schönes Land!"
Abschrift: Wilhelm Egly (1894 – 1917) Kriegstagebuch des Leutnants Egly, Friedberg 1918, S. 29-30
"Der Wolhynische Wald.
Als eine langgestreckte, stahlblaue Mauer umschließt der Wald weit hinten am Horizont die mit Wiesen und Moor wechselnden Felder der welligen fruchtbaren wolhynischen Ebene.
Als der Krieg hier durch das Land zog, nahm er ihm die fetten Herden, zerstampfte die reifende Saat auf den Feldern und legte vernichtendes Feuer unter manches Dach. Doch an den Wäldern hat er sich ohne sie zu schänden, heimlich vorbeigeschlichen.
Der Feind hält verschanzt hinter den Sümpfen im Osten. Die Geschütze zanken sich mit grollenden Stimmen, tagaus, tagein. Die Rauchpinien brennender Dörfer hängen des Tags am Himmel, in den der Brand des Nachts blutrotes Leuchten zeichnet.
An den dichten Wänden der weiten Wälder aber bricht sich der Schall der Geschütze. Und abseits von der Straße der Kolonnen im Walde erscheint der mörderische Kampf der Völker bis weit hinten nach Asien zurückgedrängt, und nur die mit Scheu gepaarte Hingabe an das Leben und Wirken des Unberührten spinnt ihre Fäden zwischen Mensch und Wald.
Die Hufe der Pferde versinken fast lautlos im weichen Grasboden der selten befahrenen Wege, und die üppigen weit in die Bahn greifenden Zweige streifen den Wagen.
Nur ein weitmaschiges Gewebe aus schmalen Streifen heißen Sonnenlichts glänzt selbst am hohen Mittag über den Kräutern und Farnen des Waldbodens, da das Geäst der hochstämmigen Eichen und Buchen, Birken und Eschen, Fichten und Kiefern eng ineinandergreift wie Bogen und Gurten eines ins Gigantische gesteigerten Gewölbes. Unter diesem Gewölbe lebt, kämpft und stirbt der Wald, auf seine eigene Kraft gestellt, ohne die sorgende Hand des Menschen. Das Stärkere verdrängt das Schwächliche, erdrückt das Alte, dem die Kraft in diesem stillen unerbittlichen Ringen verloren ging. Aus den modernden Leibern der gestürzten Stämme, die keiner als Nutzlast von dannen fährt, schießen die Gräser empor und schmücken vereint mit den wuchernden Schlinggewächsen die langgestreckten Grabhügel der Riesen des Waldes, bis sie die Zeit dem Boden gleich macht. In Sterne und Trauben gefaßt, drängt sich die Farbe der Waldblumen zwischen das satte Grün. Blaue Glockenkelche ruhen schwebend über ihm zwischen den Stämmen. Und das tiefe Rot reifer Walderdbeeren leuchtet wie Blutstropfen, die ein waidwundes Wild auf der frischen Spur verloren hat.
Es regt sich kein Lüftchen, kein Laut. Nur die Mücken summen über den Sonnenflecken am Boden. Tief im Walde im unzugänglichen Sumpf und im undurchdringlichen Gestrüpp halten sich tagsüber die wilden Schweine und das Rotwild versteckt. An den Stämmen, die sich nach wenigen Schritten durch die Wirrnis der Zweige und Büsche in der Einheit des Waldes verlieren, lehnt das Schweigen und lauscht in den Wald hinein, bis von irgendeinem Ast ein kleiner Vogel lockt und in seinem Singen den Herzschlag des Waldes fängt.
Plötzlich wird der Wald lichter und die Schatten weichen der Sonne. Die Spitzen der Binsen mischen sich unter hohes herbes Riedgras. Die Räder des Wagens sinken noch tiefer in den Boden und die Pferde ziehen schwer an ihrer Last. Ein Sumpfstreifen legt sich quer zum Weg. Wildenten flattern durch die ungewohnte Störung aufgeschreckt auf. Jetzt füllt sich der Weg mit dickem braunen Moorwasser, das den Pferden bis knapp unter den Bauch reicht. Aber die zähen, ausdauernden kleinrassigen Russenpferde patschen und stapfen munter durch die hochaufspritzende Flut des zum Bach verwandelten Weges und schleppen den Wagen allmählich wieder aufs Trockene hinauf in den dichten stillen Wald hinein…
Da klingen helle Stimmen unter dem Gebüsch. Es sind Kinder mit Tonkrügen, in die sie Beeren sammeln. Der Wald bricht jäh ab und gibt ein geräumiges Wiesenland frei, das einen kleinen blauen See umschließt. Einige strohbedeckte Blockhütten wachen am Ufer über ein paar bestellte Feldstreifen. Der polnische Bauer in dieser Einsamkeit kommt dem Fremdling freundlich entgegen. Wer mit einer Bitte an seine Tür pocht, soll mit ihm teilen dürfen, was die ärmliche Wirtschaft an geringem Ueberfluß aufzuweisen hat.
In einer kleinen Bucht des Sees ruhen die Boote, Einbäume, aus ausgehölten Eichenstämmen zurechtgeschnitten. Auf ihnen fahren die Männer und Knaben an windstillen Tagen zum Fischfang aus, während die Frauen und Mädchen daheim die Wirtschaft besorgen oder an den Webstühlen aus selbstgesponnenem und selbsteingefärbtem Garn grobe Stoffe in bunten Streifenmustern weben.
Weiter hinten im Walde an einem anderen kleinen See hat sich eine blitzsaubere Ansiedlung hingelagert. Weiße Gardinen leuchten hinter den blanken Fenstern hervor, auf deren Gesims sorgsam gepflegte Blumen in Töpfen blühen. Die Stuben der einstöckigen Hütten glänzen in erfrischender Reinlichkeit und peinlicher Ordnung. Deutsche und holländische Kolonisten haben sich vor fast hundert Jahren hier angesiedelt, indem sie die Heimat mit der Fremde vertauschen. Schwerfällige Fischergestalten von den Küsten Frieslands, blondhaarig und blauäugig, treu in Wesen und Art der alten Heimat, rufen die Empfindung wach, daß man durch ein Fischerdorf an der Waterkant wandert. Und man glaubt fast, hinter den leichtgewellten Hügeln am Dorfende müßten die weißen Dünen schützend ihre Leiber gegen das brandende Meer stemmen, dessen Brausen bis in die Stille des Dorfes dringt. Aber es ist nur der Wind, der in den Wipfeln des wolhynischen Waldes rauscht…
Die Nacht bricht hier schnell herein. Die Schatten des Waldes haben sich bereits mit dem weichen nächtlichen Dunkel vereint, wenn auch der bleiche Schein der Dämmerung noch am westlichen Himmel steht.
Die Unken in den Sümpfen werden lebendig, wilde Tauben gurren im Geäst und ein ferner Kuckuck ruft noch eine Weile.
Dann wird es ganz still. Nur der Abendwind springt von Gipfel zu Gipfel und wiegt sich leise auf den müden Zweigen.
An einer Waldblöße tritt ein Reh aus den dichten Büschen heraus, nach der Hitze des Tages die Wasserstelle suchend. Es äugt aufmerksam nach den Seiten. Dann setzt es in schnellen Sprüngen über die Wiese und verschwindet im Abend."
Abschrift aus: Libausche Zeitung 15.September 1916, Walter Georgi (1871–1924)
Eindrücke von der einheimischen Kultur sind ebenfalls dokumentiert:
"In einer ruthenischen Dorfkirche
Nach den Gefechtstagen von Korytniza in Wolhynien kamen wir in der Nacht vom 10. zum 11. September 1916 zurück von der Front in fertiggebaute Unterstände, wo wir uns einen Tag der wohlverdienten Ruhe hingeben durften. (…) Vor uns liegt Swiniuchy mit der hübschen ruthenischen Holzkirche. Wir bummeln dahin. Diese ruthenischen Kirchen ähneln sich alle. Nur aus Holz ausgeführt, sind es doch stattlich schöne Gebäude. Von außen erwecken sie einen freundlichen Anblick, schön verziert, meist weiß angestrichen. Die Dächer der Zwiebeltürme in der Regel schön grün gefärbt. Wir treten ein, hier muß es einmal herrlich gewesen sein. Die bunte Pracht, diese herrlichen Bilder und Deckengemälde! Aber wie sieht es heute nach der Schlacht aus. Verwundete sind hier verbunden und untergebracht worden; jetzt sieht alles wüst aus! Kein Wunder; denn manch aufregende Szene wird sich hier abgespielt haben. Außen ist die Kirche und innen sind ihre Einrichtungsgegenstände zwar unversehrt, aber innen alles wild und bunt durcheinander. Hier die goldene Krone (Midra) des Geistlichen, da eine Krankenbahre, ein Zwiebacksbeutel, dort ein Haufen herrlich gestickter Meßgewänder und bunter, künstlerisch gearbeiteter Decken, daneben blutige Verbände, Stroh, russische Kirchenbücher, Ölgemälde mit Darstellungen biblischer Begebenheiten, dazwischen Kartoffel-, Brot- und Weißkohlreste. Überall Spuren der Aufgeregtheit, der Eile und Hast, des Krieges! So sieht es in einer Kirche an der Front aus. Die Kirche ist außen die alte geblieben, die Russen beschießen sie nicht, während die Häuser des Dorfes meist zerstört sind. – Ein paar Tage darauf marschieren wir weiter, wir kommen zu einer anderen Stelle der Front und haben noch einige Tage Ruhe in Rykowicze. Hier ist fast dieselbe ruthenische Dorfkirche wie in Swiniuchy. Im Innern hat der Krieg keine Spuren hinterlassen. Alle steht noch auf dem ihm angewiesenen Platze. Wollene und seidene Decken sind roh in grellbunter Weise bestickt. Bunte Bilder (Andenken), wie sie daheim die Kinder in Poesiealben verwenden, sind darauf umstickt worden. (Engel-, Jesu-, biblische Darstellungen.) Die Bilder, welche die Kirche schmücken, sind vielfach Klebarbeiten aus buntem Papier oder Metalleinlage- oder -auftriebarbeiten, meist herrliche Malereien. Gold, Gold- und Silberbleche und bunte, grelle, ins Auge fallende Farben herrschen vor. Vierzehn bunte Banner und Standarten aus Seide und Metall, wie sie bei kirchlichen Umzügen gebraucht werden, sind aufgestellt worden. Mancher gläubige Wolhynier wird hier vor dem Kriege des Sonntags andachtsvoll gelauscht haben. Und heute, am14. September 1916, ein greller Gegensatz! In dem Hörerraum der ruthenischen Dorfkirche sind Nachtlagerstätten für unsere Offiziere zubereitet. Am Altar spielt unsere Jägerkapelle. "Nun danket alle Gott!" – Lobe den Herren! – Ich schieß' den Hirsch im wilden Forst. – Lützows wilde Jagd! – Fröhliche Jägerweisen." – Laut und dröhnend klingt die Kriegsblechmusik durch weihevolle Stätte, die Stimmung der Jäger, wohl weil sie glücklich aus den schwierigen wolhynischen Kämpfen von Korytnitza heraus sind, ist lustig, wieder auflebend. Sie paßt nicht recht zur Umgebung. – Manch einer lehnt in sich versunken still in einer Ecke; vielleicht dankt er seinem Gott, daß er wieder einmal glücklich davon kam? Es ja im Kriege ganz gleich, ob er sich in seiner oder in der Kirche eines Andersgläubigen befindet. – Es fällt keinem Kameraden ein, in der Kirche etwas zu vernichten, zu zerstören oder zu verändern, womöglich wegzunehmen von den Schätzen des Tempels. So wirkt die heilige Stätte gleichzeitig bannend auf die wilden Kriegernaturen.
Die Bauern in Galizien und Wolhynien
Wenn ihr durch die östlichen Kriegsschauplätze wandern könntet und die Einwohnerschaft der Gebiete anschauen dürftet, so würdet ihr euch oft des Lächelns nicht enthalten können. Besonders eigenartig wirkt die Tracht der Bauern in Galizien und Wolhynien. Selten sieht man einen Einwohner mit Fußbekleidung, fast stets gehen sie barfuß, oft selbst im Winter. Nur an Feiertagen trägt alle hohe Stulpenstiefel. Der kleine Bub' und das kleine Mädel ebenso wie Vater und Mutter. Die Männer und Knaben tragen eine weiße Hose, darüber ein hemdartiges weißes Gewand, die Mädchen und Frauen bunte Röcke und Blusen. Als Kopfbedeckung hat die männliche Bevölkerung breitkrempige Stroh- und Filzhüte, die weibliche trägt bunte, geblümte Tücher. Im Sommer ebenso wie im Winter trägt man den Pelz, und es erregt wirklich unsere Lachmuskeln, wenn in der heißen Juliglut eine Wolhynierin barfuß und im dicken Pelz einherschreitet.
Die Einwohner bauen sich auf ihrem Acker alles an, was sie zu ihrem Lebensunterhalte gebrauchen, da sieht man manches, was daheim im deutschen Vaterlande selten oder gar nicht mehr angebaut wird. Neben den Getreidearten und Kartoffeln hat jeder ein Stück Hanf und Flachs oder Lein angesät. Diese beiden Kulturpflanzen bearbeitet der Bewohner auch selbst, und er stellt sich aus dem letzteren eine grobe Leinwand her, aus welcher er seine Kleidungsstücke anfertigt. Der Hanf wird zu Bindfaden, Stricken und größeren Geweben verarbeitet. Auch Mais und Hirse werden von jedem Bauer gezogen. Der Mais reift hier Anfang September, er wird gemahlen und zum Brotbacken verwandt, ebenso auch Hirse. Eben habe ich von einem wolhynischen Bauer Hirsebrot gegen zwei Zigarren eingetauscht. Das Brot ist aus einem Gemisch von Weizen- und Maismehl gebacken, und innen befindet sich eine fingerstarke Schicht aufgequollener Hirsekörner. Wenn man es quer durchschneidet, sieht es aus wie ein Stück Torte, schmecken tut es aber längst nicht so. Jeder Bauer hat auch sein Stück Land mit Linsen, Bohnen, Erbsen, Zwiebeln, Buchweizen, Senf, Tabak, Gurken und Kürbis angebaut. Auch Leindotter findet man vielfach. Die Früchte werden zur Ölgewinnung verwandt. Aus den trocknen Stengeln werden Dotterbesen gemacht. Die findet ihr auch oft in Deutschland in Schnittwarengeschäften, dort werden die aus gelben Pflanzenstengeln hergestellten Besen zum Abstäuben der Tuchwaren benutzt. Auf den Anbau des Obstes wird nicht viel Wert gelegt! Eine wilde kleine Birne findet man in jedem Garten. Die Früchte sind oft nicht größer wie Kirschen, mit Zucker gekocht, würden sie euch aber sicher auch schmecken. So baut sich hier der Bauer alles an, was er zum Lebensunterhalt braucht und er bekümmert sich um die Außenwelt herzlich wenig. Wir liegen hier auf einem Gute in Wolhynien zur Ruhe, einige Kilometer von uns ist die Front. Die Landleute lassen sich in ihrer Erntearbeit nicht stören. Ruhig warten sie bis zum letzten höchsten Augenblick, und erst, wenn sie sehen, daß der Feind bestimmt herankommt, verlassen sie ihr Heim. Da wären im deutschen Vaterland doch die meisten Bewohner viel unruhiger, wenn sie sich in dieser Lage befänden."
Abschrift aus: Karl Waase Deutsche Jugend, erlebe die große Zeit mit! –
75 Kriegsskizzen für den Gegenwartsunterricht 1917 S. 36, 37, 45,46*
*Digitalisat, gemeinfrei: http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN727046721&PHYSID=PHYS_0037&view=fulltext-parallel&DMDID=DMDLOG_0001
Foto: "Wolhynische Landschaft" wikimedia commons (gemeinfrei) / Österreichische Nationalbibliothek
Kritisch erinnert wird das beobachtete Leid der Zivilbevölkerung:
"27. September 1915
In Wolhynien hatten die Russen noch einmal eine Gegenoffensive versucht. Dort, wie überall, war in der Panik des Rückzuges für die besseren Eigenschaften des russischen Charakters, für die Gutmütigkeit und die träumerische Weichheit, keine Zeit, nur die brutale Vernichtungswut tobte sich
hemmungslos aus.
Ohne die endlose Reihe der anderen Bilder zu vergessen — und ohne vor allem auch nur einen Augenblick die Gedanken von den Männern abzuwenden, die heute im Westen den schweren Kampf kämpfen und deren ausharrende Heldenhaftigkeit wir ahnen — muss man bei dem Massenjammer der polnischen, litauischen und kurländischen Bevölkerung verweilen, der jetzt den russischen Morast bedeckt und in den kalten Wäldern Zuflucht sucht Es ist ja eine der traurigsten Offenbarungen in diesem Kriege, dass so viele Nichtkämpfer auf irgendeine Weise unter die
Kriegsräder geraten, aber das Elend dort unterscheidet sich durch Ursprung und Ausdehnung von allem, was man sonst noch gesehen hat. Durch seinen Ursprung, denn dort hat nicht der Feind die Dörfer in Trümmerstätten verwandelt, sondern die russischen Kommandanten und Beamten haben die Untertanen des Zaren aus den aufflammenden Wohnstätten in den Hungertod gejagt. Durch seine Ausdehnung, denn dort wandert nicht eine einzelne Dorfgemeinde verstört und hilfesuchend zu einem fremden Asyl, sondern ein ganzes Volk, ein Volk von Hunderttausenden oder von Millionen, irrt verzweifelt umher. Alle Briefe und Berichte, die jetzt aus diesen verwüsteten Gebieten kommen, sagen, dass die Not der Ausgestoßenen unbeschreiblich sei. Abgehärtete, im Krieg an manchen Anblick gewöhnte Männer können sich noch lange, nachdem sie diese Gegend des Unheils verlassen haben, von der Erinnerung nicht befreien. In einem konservativen Berliner Blatte hat ein Augenzeuge das namenlose Entsetzen zu schildern versucht.
„Wieder", schreibt er, „treffen wir auf Scharen von Bewohnern, in dumpfer Verzweiflung an dem Straßenrand hockend. Hohläugig schauen sie uns mit stieren Augen entgegen. Ihre Heiligenbilder haben sie ringsum um sich aufgestellt oder an Zweige zu ihren Häuptern gehängt. Frauengestalten wälzen sich in Krämpfen am Boden, Kinder lallen trocken und schwach. Ein Greis mit wallendem Haupt- und Barthaar hält ein kleines Buch und betet unaufhörlich leise vor sich hin."
Es gibt bekanntlich — was gibt es nicht alles! — Kriegstheoretiker, denen eine zweckvolle Grausamkeit empfehlenswert erscheint. Wenn die Russen die Häuser anzünden und die armen Menschen am Wege verhungern lassen, so ist das eine Maßregel von vollendeter Zwecklosigkeit. Die Geschichten von 1812, der Brand von Moskau, die Heimkehr der napoleonischen Armee schweben ihnen vor. Ihre Mordbrennertaktik ist missverstandener Kutusow. Die Armee Napoleons ging in dem verödeten Lande zugrunde, weil sie noch keine Rückwegssicherung durch Eisenbahnen, keine Gulaschkanonen und nicht die Organisation des deutschen Heeres besaß. Heute zerschlägt man mit den Aushungerungsmitteln nur das unglückliche Volk."
Abschrift aus: Theodor Wolff (1868 – 1943): Vollendete Tatsachen 1914-1917 , Berlin 1918, S. 71,72
----------------------------------
Künstlerbild: Heinrich Vogeler (1874 – 1942) "Mühle bei Kowel" (ca. 1915)
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Heinrich_Vogeler_M%C3%BChle_bei_Kowel_c1915.jpg
weitere Zeichnungen in der Werkmappe "Aus dem Osten":
http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN768618576&PHYSID=PHYS_0001&DMDID=
http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0000F70000000000
Friedrich Immanuel Wie wir die westrussischen Festungen erobert haben: ein Beitrag zur Geschichte des Weltkrieges ; Berlin 1916
Karte 10 - Frontverlauf Luzk – Dubno (Scan 75)
Friedrich Immanuel 33 Monate Krieg - eine volkstümliche Darstellung des Weltkrieges, Berlin 1917
http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0000D4F600000000
Karten-Skizze der Frontverläufe: Scan 273
Kartenausschnitt "Festungsdreieck Luzk – Dubno-Rowno":
Walter Paasche "Der westliche Kriegsschauplatz" Stuttgart 1917 (Seite 2)
https://polona.pl/item/35933670/1/
Zeichnung von Theo Mateijko (1916): Soldaten in einem Unterstand bei gegenerischem Trommelfeuer
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/05/Matejko%2C_Wolhynien_1916a.jpg
Historische Postkarte aus Wolhynien (1914-1918)
http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=6-455961-1
Bauernhof in Lubitow
http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=6-456546-1
Index:
Luftbildaufnahmen im Baden-Württembergischen Landesarchiv
General H. Flaischlen (Hrsg.) Die württembergischen Regimenter im Weltkrieg 1914 – 1918,
Bd.21: Das 122. Württembergische Reserve-Infanterie-Regiment , Stuttgart 1922
Bilder aus Wolhynien (jpg-Dateien gemeinfrei; Quelle: württembergische Landesbibliothek)
= Kirche Kisielin
Heinrich Harms (Hrsg.) Die Geschichte des Oldenburgischen Infanterie-Regiments Nr. 91
Oldenburg / Berlin 1930
Karte mit Frontlinien und Daten von Kampfhandlungen 1915 / 1916
Online: Zeichnungen eines Frontsoldaten in der Region Kowel
http://www.jmberlin.de/12-von-12000-ernst-marcus
Die Geschichte des Weltkrieges – II. Band
Wien 1919
vgl. Inhaltsverzeichnis mit Einträgen zu Kampfgeschehen in Wolhynien:
http://digi.landesbibliothek.at/viewer/!toc/AC04533522/167/-/
Dr. Fritz Wertheimer (1884 - 1968) "Der Kampf in Wolhyniern"
in: Tägliche Omaha-Tribüne (Nebraska/USA) , Ausgabe 18.8.1916
http://chroniclingamerica.loc.gov/lccn/sn83045652/1916-08-18/ed-1/seq-2/
_____________
letzte Änderung: 11.7.2018