Das Ausland - Ein Tagblatt für die Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker
Ausgaben vom 17., 18., 20., 22., 23., 24. Februar 1839
Reiseskizzen aus Rußland und Polen
Aus den Memoiren des russischen Reisenden Glagoljew (Auszug)
Weg von Kiew nach Krzemieniec.
Von Kiew nach Shitomir findet sich fast nichts Bemerkensewerthes, außer einigen Erdbefestigungen, die man in mehreren alten Dörfern, wie in Bjelogorodki, Motischin, Bersowna u.w.s. trifft. Diese Befestigungen bestehen aus Gräben und Erdaufwürfen, und bildeten wahrscheinlich eine Wachpostenlinie gegen unvermuthtete Einfälle der türkischen Horden, welche im 16ten und 17ten Jahrhundert in diesem Landes Schrecken und Verheerung verbreiteten.
Am 24. April war mein Nachtlager in Radomysl, welche Stadt von einem Walde umgeben ist, der sich auf der Seite nach Kiew 25 Werst weit erstreckt; einige lange Dämme sind hier durch die Sümpfe gezogen. Am 25. Mittags kam ich nach Shitomir, wo sich drei russische Kirchen und zwei katholische Klöster, ein Bernardinerkloster und eines der barmherzigen Schwestern finden; ein drittes, sehr großes Kloster, das ehemals die Jesuiten in Besitz hatten, steht leer. Außerdem ist in Shitomir auch einer der Hauptsitze der katholischen Eparchie von Luzk mit dem dazu gehörigen Kapitel, das aus 7 Prälaten und 7 Kanonikern besteht. Hier erhielt ich auch den ersten Begriff von den Juden, indem einige derselben über zwei Stunden lang durch unaufhörliches Anerbieten ihrer Dienste und Waaren meine Geduld erschöpften.
Von hier ging ich nach Berdytschew, wo ich mit meinem Bankier zu sprechen hatte. Sieben Werste von Shitomir, am Flusse Teterew, fand ich noch spuren weitläufiger Erdaufwürfe, welche entweder mit den übrigen Befestigungen zur Wachpostenkette gehörten, oder nur zum temporären Aufenthalt der Truppen bestimmt waren, für welches letztere zum Theil der Name des in der Nähe dieser Erdaufwürfe liegenden Dorfes Stanowischtsche (Lagerplatz) spricht. Berdytschew kann man den ewigen Lagerplatz der Juden nennen, die auch den bedeutendsten Theil der Bevölkerung dieses Städtchens bilden. Die Männer mit zerzausten Haaren, mit breiten Hüten, langschößigen Nankingüberröcken, in Zwirnstrümpfen und Pantoffeln, mit Pfeifen im Bunde, befinden sich vom Morgen bis zum Abend auf dem Marktplatze; die Weiber, zu Hause und auf der Straße, sitzend und gehend, sind unaufhörlich mit Strumpfstricken beschäftigt. Die Juden treten jedem Russen mit merklicher Unruhe entgegen, messen ihn mit scheuem Blicke vom Kopf bis zu den Füßen, und bemühen sich gleich bei der ersten Bekanntschaft seinen Charakter, seine Neigungen, seine Gelüste, und, was für sie am wichtigsten ist, seine Geldmittel kennen zu lernen. Ich hielt bei einem polnischen Traiteur an, und ging dann sogleich in Begleitung eines jüdischen Factors aus, um die Stadt zu besehen. Factor bedeutet in den polnischen Gouvernements eben so viel, als in Italien Cicerone und in Frankreich Domestique de Place. Er ist Diener, Dolmetscher und Führer; seine Pflicht ist, dem Fremden alle Merkwürdigkeiten des Ortes zu zeigen, Nachrichten über Alles einzuziehen, was ihm zu wissen nöthig ist, seine Forderungen zu erfüllen, und so viel wie möglich seinen Wünschen zuvorzukommen. Das merkwürdigste Gebäude in Berdytschew ist das römisch-katholische Carmeliterkloster, das im J. 1630 von dem Kiew’schen Woiwoden Tyszkiewicz gegründet und begabt wurde, um, wie es im Stiftungsbrief ausgedrückt ist, das russische Volk zur heiligen Union aufzumuntern.*) Das Kloster ist von hohen, steinernen Mauern umgeben, und schließt einige steinerne Gebäude für etliche unbeschuhte Carmeliter ein. Von der Terrasse, auf welcher die Klosterkirche steht, hat man einen Ueberblick auf die unteren Theile des Städtchens und seine Umgebungen.
(Generalkarte Westrussland 1863 - Ausschnitt)
Ueber Berdytschew führt die gerade und kürzere Straße von Kiew nach Radziwilow, ab er man kann diese Straße im vollen Sinne des Wortes eine Operationslinie der Juden nennen, denn hier finden sich keine anderen Poststationen als jüdische, und auch die Bevölkerung besteht fast ganz aus Juden. Aus Furcht vor Hunger, Durst und Schlaflosigkeit, denen man gewöhnlich in diesen unreinen Kneipen ausgesetzt ist, beschloß ich, über die Poststraße durch Shitomir zurückzukehren. Vier Werste jenseits dieser Stadt ist ein merkwürdiges Dorf Sokolowaja Gora (Falkenberg) genannt; es liegt am Fuße eines runden, steilen, oben mit einem Erdwall umgebenen Berges, auf dem, der Volkssage nach, der Räuber Sokol (der Falke) gehaust haben soll.
In Nowgrad-Wolynsk sind von der alten Veste noch einige steinerne, mit Moos überwachsene Mauern übrig, von denen eine gegen den Fluß Slutscha zu auf dem hohen, steilen Ufer steht, welches gleichsam ihre Fortsetzung bildet. Nowgrad Wolynsk hieß früher Swägel, und gehörte der Gräfin Sudowa, einer gebornen Lubomirska, welche aber im Jahre 1796 für die Krone aufgekauft. Der Weg führt größtentheils durch den Wald, der schon am Fuße des Falkenbergs beginn und sich 80 Werste weit fast bis Korez erstreckt. Dieses Städtchen, das der Gräfin Potozka gehört, kann sich mit den bessern Kreisstädten in eine Linie Stellen. Ueber dem Flusse Kortschit steht ein schönes Schloß mit einem Thurm; auch befindet sich hier ein griechisch-russisches Frauenkloster, das im 12ten Jahrhundert von den Fürsten von Korez gestiftet wurde. Im J. 1633 vermachte Serosima, Fürstin von Korez und Vorsteherin dieses Klosters, demselben das ganze Amt Klincz, das aus einem Flecken und sieben Dörfern besteht. Für Philologen ist der Name Korez darum merkwürdig, weil der hiesige Protvierei Laurentius Sisani die erste slawische Grammatik verfasste.
Zwischen Kolkiew und Korostow trifft man an den Seiten des Weges eine Menge Gräber. Die nächste Stadt, >>> Ostrog, wohin ich mit Sonnenuntergang kam, ist berühmt durch den Eifer ihrer alten Fürsten für die griechisch-russische Religion, und dadurch, daß im J. 1581 hier die erste slawische Bibel nach einer von Johann Wassiljewitsch aus Moskau geschickten Abschrift gedruckt wurde; das Häuschen, worin die slawische Druckerei sich befand, gehört jetzt einem Juden. Der fürstliche Palast befand sich wahrscheinlich in der Veste, wo noch einige Gebäude und eine halb zerstörte russische Kirche vorhanden sind; welche von Wassili III., Fürsten von Ostrog im 15ten Jahrhundert erbaut wurde. Man glaubt, der falsche Demetrius sey nebst der Tochter des Wojwoden von Sandomir, Mniszek, in dieser Kirche zum erstenmale gekrönt worden. Die Veste, welche durch einen Graben und den steilen Abhang des Berges geschützt ist, steht auf dem höchsten Punkte der Stadt über einer schönen Ebene, welche sich auf der Südseite gleich einem grünen Teppich ausbreitet. In dem unteren Theile der Stadt liegt das Mannskloster zur Verklärung Christi, das im J. 1024 auf Kosten der Fürstin Chobkiewitsch aufgeführt wurde.
In Dubno, wohin ich am 28. April gelangte, ist das größte und auf dem besten Platze gelegene Gebäude, wie in den andern hiesigen Städten, die römisch-katholische Kirche. Das Schloß des Fürsten Lubomirski ist von Häusern eingeschlossen, und hat, ob es gleich erst im Jahre 1817 für das Kriegsdepot erbaut wurde und sehr schön und groß ist, durchaus kein Ansehen. Auf dem Marktplatze der Stadt befindet sich ein Gasthof, der einer der besten in diesem Lande ist.
Mit der Veränderung des Orts verändert sich auch der ganze Umriß der Natur. An den Gränzen des Gouvernements Wolhynien verschwinden allmählich die Ebenen der Ukraine: beim Heraustreten aus Dubno sieht man links die bläuliche Bergkette, welche schon in Gulitsch, 20 Werste von Ostrog, beginnt, und sich südwestlich nach Radziwilow hinzieht. Am Fuße dieser Berge liegt Krzemieniec. Der wilde und großartige Anblick der Steilfelsen und Berge, die die Stadt umgeben, ist ein unerwartetes Schauspiel für den mit Berglandschaften noch nicht bekannten Reisenden. Ueber der Stadt selbst erhebt sich ein runder und schwer zu ersteigender Berg, der mit einer Mauer und Thürmen, den Resten eines alten Schlosses, gekrönt ist. Weder die Gründer, noch die Zeit der Gründung von Krzemieniec sind bekannt, und wir wissen nur, daß die Stadt im Alterthum zu dem Apanage-Fürstenthum Wladimir gehörte, und im Jahre 1240 von dem Schrecken Rußlands, Batu Khan, und um das Jahr 1256 von seinem angeblichen Sohne Kurem Sah ohne Erfolg gestürmt wurde. Im 14ten Jahrhundert kam Krzemieniec an Polen, und wurde unter Sigismund I. nach den Regeln der neuen Kriegskunst befestigt; im Jahre 1649 jedoch fiel es vor einer kleinen Schaar Kosaken, welche sich für die Bedrückung ihres Glaubens an Polen rächten. Wenn man der Sage glauben darf, so besaß Krzemieniec gegen 70 Kirchen, und war die Residenz der Königin Bona, die, nachdem sie in Polen große Summen zusammengescharret hatte, damit nach Neapel ging. Bekanntlich mußten die polnischen Könige jedesmal bei ihrer Thronbesteigung der Republik schwören, alle möglichen Mittel anzuwenden, um dieses Summen wieder zu erhalten.
*) D.h. zum Uebertritt zur katholischen Kirche unter gewissen Concessionen hinsichtlich des Ritus und der Priesterehe. Die Art, wie die Jesuiten zu jener Zeit die Union der zur griechisch-russischen Kirche gehörigen Bewohner der Ukraine, Podoliens und Wolhyniens betrieben, erklärt die nachmalige Reaction und manches Verfahren der Russen aufs vollständigste. (A.d.R.)
Abschrift zum Download pdf 227 KB (mit weiteren Textabschnitten: über das Kloster Potschajew, über die Zusammensetzung der Bevölkerung in der Region und die Streitigkeiten der christlichen Konfessionen)
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letzte Bearbeitung 16.06.2020