Zur Geschichte der Deutschen in Wolhynien
Notizen von einem Vortrag von Dr. Mikhaylo Kostiuk in Rivne am 4.10.2012*
Text zum Download (pdf - 82 KB)
vgl. auch ausführliche Darstellung mit zahlreichen Fotos in
Viktor Kauder (Hrsg.) "Das Deutschtum in Polen", Bd. 5 - Ostpolen, Leipzig 1939
online: "Pommern Digitale Bibliothek" (121 Seiten, djvu-Format) https://pbc.gda.pl/dlibra/plain-content?id=2354
- Ein vielfach bestehender Irrtum ist auszuräumen: die Einwanderung der Deutschen nach Wolhynien im 19. Jahrhundert basiert nicht auf den Dekreten der Zarin Katharina II aus dem Jahr 1763, denn diese betrafen andere Gebiete Russlands (vgl. >>> Kartenübersicht, z.B. die Wolga- und Schwarzmeerregion); 1763 gehörte Wolhynien noch zu Polen.
- Die Kolonisation durch die Deutschen erfolgte auf eigene Kosten der Siedler; es gab keinerlei staatliche Vergünstigungen; die Zuwanderung endete erst 1917 in der Folge der russischen Revolution.**
- Drei Einwanderungswellen sind auszumachen:
- die erste verlief von 1800 bis etwa 1830: es kamen überwiegend Mennoniten, die aus religiösen Gründen ihr Land verlassen hatten (z.B. Preußen); statistisch wird von ca. 1000 Siedlern ausgegangen;
- die zweite Einwanderungswelle war von 1830 – 1860 zu verzeichnen; auslösend hierfür war die Agrarreform 1861 in Russland – verbunden mit der Aufhebung der Leibeigenschaft (die Gutsbesitzer verloren ihre einheimischen Arbeitskräfte und waren froh über die deutschen Zuwanderer, die ihre landwirtschaftlichen Flächen in Bearbeitung nahmen und Gewinn einbrachten); die meisten Kolonisten dieses Zeitraumes kamen aus Polen, dort war infolge der Aufstände im Jahr 1863 die Lage für Deutsche sehr schwierig geworden und Wolhynien erschien als angrenzendes Gebiet vielversprechend für den Erwerb / die Pacht günstiger Grundstücke;***
- im letzten Drittel des 19. Jh. erreichte Wolhynien erneut ein anschwellender Zuwanderungsstrom; die Zahl deutscher Kolonisten belief sich zur Jahrhundertwende auf mehr als 170.000. ****
>>> Karte mit einer Gesamtübersicht der Einwanderung von Deutschen im 18. und 19. Jahrhundert:
- Die russische Regierung war zunächst nicht beunruhigt über die Zuwanderung: im Gegenteil – die polnischen Kolonisten in der Grenzregion sollten von den deutschen verdrängt werden, da Aufständische unter den Polen gegen Russland agitierten.
- Mitte des 19. Jh. wurden dann allerdings Zuwanderungsbeschränkungen und andere Gesetze zur Regulierung des Lebens und der wirtschaftlichen Betätigung von Ausländern erlassen[1], u.a. ein Verbot des Landerwerbs im Grenzgebiet.
- Ende des 19. Jh. führte die hohe Geburtenrate unter den deutschen Kolonisten zu einer Landverknappung (infolge der Erbteilungsregelung konnten die immer kleiner werdenden landwirtschaftlichen Flächenanteile die Familien nicht mehr ernähren); die Folge war eine Auswanderungswelle nach Sibirien und in den fernen Osten, auch nach Canada, in die USA und nach Brasilien; die Namen der dort neu gegründeten Kolonien sind vielfach mit denen in Wolhynien identisch; so entstand die sehr eigene Identität der Wolhyniendeutschen – nicht nur in Deutschland.
- Während der Zeit des 1. Weltkriegs verbreitete die russische Presse im ganzen russischen Reich antideutsche Stimmungen und Unterstellungen; russische Nationalisten zerstörten Häuser von Deutschen (allerdings nicht in Wolhynien); die Schuld für die Verluste der russischen Truppen in Kämpfen des 1. Weltkrieges wurden offiziell den Deutschen zugeschoben (faktisch ist dies nicht glaubwürdig und nach Recherchen in russischen Archiven auch nicht beweisbar: die Männer aus den deutschen Kolonien kämpften in der russischen Armee - auch gegen deutsche Truppen! - , die zurückgebliebenen Frauen, Kinder und Alten dürften kaum in der Lage gewesen sein, kriegswirksame Spionage oder Sabotage zu betreiben).
- Von Juni 1915 – Januar 1916 wurden die deutschen Kolonisten der westlichen Grenzregionen des russischen Reichs enteignet und deportiert tief ins Innere Russlands (Ural, Sibierien); dies bewirkte einen hohen Bevölkerungsverlust in der Region; z.T. wurden die Menschen einfach in der Steppe ausgesetzt – ohne Lebensmittel und Unterkünfte.
- Zurückgekehrt ist nur etwa die Hälfte der rd. 200 000 deportierten Wolhyniendeutschen; sie fanden ihre Wirtschaften überwiegend zerstört vor und mussten vorübergehend in Notunterkünften (Erdhütten) wohnen, bis sie sich eine neue Bleibe gebaut hatten.
- Mit dem so genannten Frieden von Riga 1921 wurde Wolhynien in einen West- und einen Ostteil getrennt, deren Geschichte sich jeweils sehr unterschiedlich entwickelte:
- der Ostteil gehörte zu Russland; die Bevölkerung musste unter schlimmen Repressalien leiden, u.a. einer künstlich herbeigeführten Hungersnot;
- der Westteil wurde Polen zugeschlagen (die Kreise Dubno, Horochow, Kostopol, Kowel, Krzemieniec, Luboml, Rivne, Sarny, Wlodzimierz, Zdolbunow); die polnische Bevölkerung und Regierung war den deutschen Kolonisten gegenüber - zumindest bis zum Jahr 1933 – wohlwollend gesonnen; mit Beginn des Hitler-Regimes wendete sich die Stimmung: die Deutschen wurden pauschal der Kollaboration mit dem Deutschen Reich verdächtigt, unter Repressalien und Anschlägen mussten sie jedoch zunächst nicht leiden;
- 1939 wurde nach Verhandlungen zwischen Russland und dem Deutschen Reich ein Abkommen über die Umsiedlung aller Volksdeutschen auf das Gebiet des Deutschen Reichs geschlossen; die Umsiedlungsaktion für die Westwolhynier in den Warthegau endete am 1.2.1940;
- Die Region Gesamt-Wolhyniens wurde 1941 von den deutschen Truppen eingenommen; als sich 1943 bereits die Niederlage des Deutschen Reichs abzuzeichnen begann, sollten auch die Volksdeutschen aus Ostwolhynien in den Warthegau umgesiedelt werden, was jedoch wegen der rasch vorrückenden russischen Truppen nicht für alle gelang.
- "Die Geschichte der Deutschen in Wolhynien endet 1943, aber die Geschichte der Wolhyniendeutschen weltweit ist noch lange nicht zu Ende"; dies beweisen die zunehmenden Besuche im Land, die Vereinsgründungen mit dem Ziel des Austausches, die Errichtung von Museen und Gedenksteinen, außerdem Presseberichte, historische Forschungsarbeiten und genealogische Recherchen;
- Wolhynien ist nicht nur Teil der ukrainischen Geschichte, sondern auch der europäischen Geschichte; viele Jahrzehnte friedlichen Zusammenlebens verschiedener Nationalitäten sind ein vorbildhaftes Beispiel für das heutige Europa. *****
* Ich danke Herrn Dr. Kostiuk für die Zustimmung zur Veröffentlichung.
** zum Weiterlesen:
Alfred Karasek "Das geschichtliche Werden des Deutschtums in Wolhynien" in "Deutsche Monatsblätter in Polen", 1937/1938, 4.(14) Jahrgang), S. 23 - 30
Kurt Lück "Deutsche Aufbaukräfte in der Entwicklung Polens", Abschnitt "400 deutsche Dörfer im heute zu Polen gehörenden Wolhynien", Nachdruck 1990 der Ausgabe von 1934, Seite 430 - 434
Hans Siegfried Weber "Deutsch-russische Rücksiedlung" Dresden/Leipzig 1917, Seite 12: "Neben dieser von den russischen Herrschern geleiteten Ansiedlungspolitik fand eine selbständige Besiedlung Wolhyniens in den Jahren 1830/31 und 1862/63 statt. Diese deutschen Kolonisten waren bereits russische Untertanen in den polnischen Gebieten des russischen Reiches und hatten in den Revolutionsjahren treu zu dem russichen Zaren und russische Reiche gehalten. Sie wurden deshalb von der polnischen Bevölkerung vielfach bedrängt und schließlich von der russischen Regierung in Wolhynien angesiedelt. Sie kamen auf Apanagegütern, dem Zaren gehörig, unter, andererseits waren sie auch den polnischen Großgrundbesitzern zur Ansiedlung willkommen. Diese pachteten ihnen von ihren Besitzungen Teile ab, um durch den Pachtzins die Kontributionen zahlen zu können, die ihnen nach der polnischen Revolution auferlegt worden waren."
*** Ein weiterer Grund für die Auswanderung waren politisch motivierte Ausschreitungen gegen Deutsche, die schon zur Zeit des ersten Aufstandes 1831 begonnen hatten (vgl. Oskar Kossmann "Die Deutschen in Polen seit der Reformation", Marburg 1978, Seite 331 f); so auch Theodor Baßler in "Das Deutschtum in Rußland", München 1911, Seite 39 und 42; in den 1840er Jahren siedelte eine größere Anzahl von Kolonisten aus Kongreßpolen u.a. nach Wolhynien aus, weil ihre Gutsherren die ursprünglich "auf Ewigkeit" angelegten Pachtverträge gekündigt hatten; diese Kolonisten sollen zur Zeit der napoleonischen Kriege vorwiegend in der Weichselgegend gesiedelt haben (vgl. Adolf Eichler in "Das Deutschtum in Kongreßpolen", Stuttgart 1919/1921: beispielhaft genannt sind Aussiedlungen aus Glodowo 1842, Grabiny 1848, Czarke und Jastrzembie 1849)
**** Die offiziellen statistischen Bevölkerungszahlen geben mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht den realen Stand wieder. V. M. Kabuzan schreibt über Wolhynien: " In den 1860er Jahren hatte man dort nur 4900 Deutsche registiert (0,3 %). In Wirklichkeit war der deutsche Anteil höher gewesen, denn die meisten Deutschen hatten die russische Staatsangehörigkeit nicht angenommen und waren deshalb als Ausländer bei den Revisionen nicht erfasst worden. Von den sechziger bis in die neunziger Jahre war ein starker Zustrom zu verzeichnen, allein im Jahr 1871 hatten sich 5982 deutsche Familien im Gouvernement Wolhynien niedergelassen." (aus: V. M. Kabuzan "Zahl und Siedlungsgebiete der Deutschen im Russischen Reich 1796 - 1917" in "Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" Berlin (DDR) 1984, Seite 866 - 874); Peter von Köppen (St. Petersburg 1852) nennt für das Jahr 1834 die Zahl von 4000 Deutschen in Wolhynien https://dspace.utlib.ee/dspace/handle/10062/196
Edouard Marbeau nennt für 1871 als Zahl deutscher Siedler für die Regionen Wolhynien, Podolien und Kiew insgesamt 44000, fünf Jahre später 53.146 (aus "Les Colons Allemands en Petite Russie" in: "Revue française de l'étranger et des colonies et l'exploitation", Ausgabe 1885, Band 3 S. 115 - 124, hier S. 120).
Eine Liste aller bekannten Kolonien / Orte in Wolhynien mit aktuellen Koordinaten findet sich hier: (179 KB): https://www.sggee.org/research/Gazetteer_Volhynia.pdf
***** Zur Ansiedlung von schweizerischen Mennoniten vgl. http://www.taeufergeschichte.net/index.php?id=92;
zur Auswanderung aus Wolhynien nach Kansas:
https://archive.org/stream/kurzegeschichted00wede#page/106/mode/2up
Weitere Lesetipps
- vgl. zur Siedlungsgeschichte auch:
- Walter Kuhn "Das Deutschtum Wolhyniens und seine Herkunft" in: "Deutsche Ostkunde" 28. Jahrgang, Heft 3, August 1982, Seite 49 - 55
- Otto Heike "Die deutsche Minderheit in Polen bis 1939", Leverkusen 1985, Seite 27 - 31
- Waldemar Krusche "Von den deutsch-evangelischen Kolonisten in Polnisch-Wolhynien" in: "Die evangelische Diaspora", Jahrgang 1928, Seite 28 - 37 >>> Download pdf 222 KB
- Deutsche Blätter in Polen 1926 - >>> Digitalisat: Themenheft zum Deutschtum in Wolhynien
- In einer Studie zum Schulwesen der Deutschen Minderheit in Polen 1918 - 1939 ist die Siedlungsgeschichte der Deutschen in Wolhynien ebenso kurz zusammengefasst:
vgl. Ingo Eser "Volk, Staat, Gott!" Wiesbaden 2010, Seite 106 - 110
- Die Geschichte tschechischer Siedler in Wolhynien beschreibt ein Beitrag von Jaroslav Vazulík, veröffentlicht in: Klaus J. Bade u.a. (Hrsg.) "Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart", Paderborn 2007, Seite 1044 - 1047
- zur Gründung von Tochtersiedlungen der Bugholländer in Wolhynien vgl. http://www.bugholendry.de/ und http://www.bughollaender.de/
- vgl. auch: Waldemar Giesbrecht "Wegbereiter waren die Mennoniten"- Wolhynien und die Wolhyniendeutschen, Besiedlung und Entwicklung" in: Das Ostpreußenblatt, Ausgabe 10. Oktober 1987, Seite 10 >>> online http://archiv.preussische-allgemeine.de/1987/1987_10_10_41.pdf.
- zur frühen Besiedlung durch Mennoniten aus der Schweiz im 18. Jahrhundert, die sich heute in Übersee noch "Wolhynien-Schweizer" nennen, vgl. http://archive.bethelks.edu/ml/issue/vol-65/article/eine-studie-der-kultur-der-schweizer-wolhynischen/ ;
vgl. auch Genealogie der Familie Schrag 1836 - 1974
https://archive.org/stream/jacobschragfamil00kauf#page/n1/mode/2up/
vgl. auch : Joachim Raith « Religiöse Migration » in:
Hans Goebl, Peter H. Nelde, Zdenek Stary, Wolfgang Woelck (Hrsg.)
"Kontaktlinguistik/Contact Linguistics/Linguistique de Contact: Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung"
Berlin 1996, Seite 311 ff (hier: Seite 314)
[1] Anmerkung: zu Einzelheiten vgl. http://www.russlanddeutschegeschichte.de/kulturarchiv/quellen/kolonistengesetze.htm
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letzte Änderung:04.08.2019